In der aktuellen Folge des Interviewformats „Referat_Y - Division_Y“ von Jo Tein wird Leo Tigges, Berater und früherer Generalsekretär der Confederation of European Probation, interviewt.
Er ist als eines von fünf Kindern aufgewachsen. Sein Vater war Beamter bei der Stadtverwaltung in Den Haag, seine Mutter lebte auf Grund einer psychischen Erkrankung die meiste Zeit seiner Kindheit nicht zuhause und kam erst zurück, als er 18 Jahre alt war und bereits studierte. Dies weckte bei ihm ein Interesse an den Bereichen der Psychologie und Psychiatrie. Zunächst studierte er für zwei Jahre Politikwissenschaften, bis er die Kombination aus Soziologie und Kriminologie für sich entdeckte. Innerhalb der Kriminologie setzte er sich dann intensiv mit forensischer Psychiatrie und forensischer Psychologie auseinander.
Mit 21 Jahren erlebte er als Student etwas, dem er bis heute einen besonderen Stellenwert in seiner Karriere beimisst. Die Aufstände 1968 an der Sorbonne Université in Paris führten dazu, dass Leo Tigges sich 1969 für mehr Demokratisierung der Universität von Amsterdam einsetzte, indem er und seine Mitstreiter:innen das Verwaltungszentrum inmitten von Amsterdam besetzten. Der Straßenverkehr war mehrere Tage lang gesperrt und Arbeiter aus der Kommunistischen Partei bauten eine Luftbrücke, um sie mit Lebensmitteln und Wasser zu versorgen, welche allerdings von der Polizei abgerissen wurde. Nach drei Tagen wurden die Besetzer:innen aus dem Gebäude entfernt, ins Polizeipräsidium gebracht und mussten drei Monate später dem Polizeirichter vorsprechen. Leo Tigges bereitete sich mehrere Tage lang auf seine Verteidigung vor. Zu seiner Enttäuschung zeigten die Richter und Staatsanwälte jedoch kein Interesse an dem, was er sagte. Das Konzept der Verfahrensgerechtigkeit existierte damals noch nicht. Da er, auf Grund seines Alters, nach damaliger Gesetzeslage nicht als Erwachsener galt, wurde er nicht zu einer Freiheitsstrafe, sondern zu einem Bußgeld verurteilt und wurde nicht in das Strafregister aufgenommen.
Dennoch wurde er in seiner Karriere dreimal daran erinnert, dass er verurteilt worden war und seine Vertrauenswürdigkeit wurde in Frage gestellt: In seinem ersten Job, als Sozialarbeiter in einer Haftanstalt, den er während seines Studiums ausübte, dann während seines Wehrdienstes beim Militär und schließlich auch bei seiner darauffolgenden Tätigkeit in einem Forschungszentrum des Justizministeriums, bei welchem er hauptsächlich zu Themen der Bewährungs- und Straffälligenhilfe forschte. Obwohl die Nachfragen seiner Vorgesetzten seine Karrierechancen nicht beeinträchtigten, konnte sich Leo Tigges durch diese Erfahrung vorstellen, dass sich eine Stigmatisierung auf ehemalige Inhaftierte ihr Leben lang auswirken kann.
Im darauffolgenden Job wurde er zunächst stellvertretender Direktor und anschließend Direktor der Abteilung für Bewährungs- und Straffälligenhilfe im Justizministerium in den Niederlanden. Er erinnert sich an den Diskurs, um die Ausrichtung der Bewährungs- und Straffälligenhilfe – konzentriert sich diese ausschließlich darauf, Täter zu unterstützen, oder liegt der Fokus auch darauf, gute und zuverlässige Informationen an die Justiz zu übermitteln und Personen, die eine bedingte Freiheitsstrafe erhalten haben zu kontrollieren? Zudem gab es in den Niederlanden Herausforderungen in der Kommunikation von differenzierten Systemen und unterschiedlichen Organisationen der Bewährungs- und Straffälligenhilfe. Es folgte eine Umstrukturierung, an welcher Leo Tigges beteiligt war. Auch im Interview betont er, dass der Schlüssel zum Erfolg in der Netzwerkarbeit liege.
Darauf folgten unterschiedliche Jobs in der Bewährungs- und Straffälligenhilfe, in der Strafjustiz, sowie in einer Kinderschutzbehörde. Insgesamt arbeitete er rund 40 Jahre lang in verschiedenen Arbeitsbereichen des Strafrechtssystems und sah sich dabei vor unterschiedlichste Herausforderungen gestellt. Leo Tigges berichtet, inwiefern er dieses System voranbringen konnte und warum er auch noch heute, 10 Jahre nach seiner Rente, an verschiedenen Projekten beteiligt ist.
Im zweiten Teil des Interviews geht es um den Kapazitätsaufbau in der Bewährungs- und Straffälligenhilfe. Das meint, Länder beim Aufbau einer Organisation oder eines Systems der Bewährungs- und Straffälligenhilfe zu unterstützen, indem dafür Erfahrung anderer Länder genutzt werden. Zu diesem Thema hat Leo Tigges gemeinsam mit Steve Pitts einen Forschungsbericht veröffentlicht. Worum es in diesem Bericht geht, wie er zustande kam und was er erreichen wollte, das können Sie hier nachhören, im vollständigen Interview von Jo Tein mit Leo Tigges auf Youtube.